
Nebel brach das erwachende Sonnenlicht in ein Meer aus Farben. Leicht beschwingt stieg er von der Seeoberfläche nach oben, zeichnete einen Regenbogen und spiegelte sich in den klaren Tiefen wieder. Samtig weiche Nüstern tauchten in das friedvolle Bild ein, erzeugten ein Kräuseln und eine blasrosa Zunge leckte vom kühlen Nass, das dünn die Eisschollen überzog.
Ein Knacken im Unterholz erregte die Aufmerksamkeit des Wesens. Es sah auf dem ersten Blick einem weißen Pferd zum Verwechseln ähnlich. Anmutig hob es den Kopf, erstaunt musterten große schwarze Augen das Unterholz. Das silbern funkelnde Horn auf seiner Stirn leuchtete wie zur Begrüßung des Besuchers auf, der von zierlichem Wuchs war und eine Flöte an den Mund hielt. Leise, beruhigende Töne wie das Jubilieren eines Vogels in Elternfreuden, stiegen zum klaren Himmel empor. Die zarten Flügel der Fee schillerten farbenfroh und trugen sie, wie auf einem Windhauch reitend, auf die Lichtung am See.
Sanft wiegte sich die Fee im Rhythmus ihrer Melodie. Die Klänge verwandelten sich in goldenen Staub, der sich über dem Schnee ausbreitete und zu einem Kreis formte. Das Einhorn am Ufer schüttelte seine Mähne, scharrte mit den Hufen und tänzelte näher an die lockende Flötenspielerin heran. Die Töne wurden fordernder, trommelnder. Schon peitschte der Schwanz des Tieres energisch mit, ergriffen vom Zauber der Musik, als ein Jagdhorn den magischen Moment zerbrach.
Panik blitzte auf in den Augen der Stute. Laut wiehernd galoppierte sie davon. Schneebatzen wurden aufgeworfen und nur die Spuren, die das Tier hinterließ, erinnerten an seinen Besuch am Ufer. Die Fee sah dem Einhorn hinterher. Ihre spitzen Ohren lauschten den Geräuschen der Eindringlinge. Sie war besorgt. Die Melodie auf ihrer Flöte wurde schriller, fast angriffslustig und erzeugte einen weißen Feenstaub, der die Fährte der Stute vor den Augen Uneingeweihter verbarg.
Dann versteckte sie sich im Nadelkleid einer Tanne, beobachtete wie Reiter durch das Gehölz preschten. Sie lachten laut, als ihre Hunde einen verängstigten Fuchs in Fetzen rissen. Blut tränkte den Schnee. Die Fee schloss ihre veilchenblauen Augen und presste ihre Händchen auf die Ohren. Es nützte nichts. Die Schmerzen der sterbenden Kreatur durchpulsten sie bis in die Tiefen ihres Herzens. Achtlos ließen die Jäger ihre Beute liegen, interessierten sich nicht mehr dafür und suchten anderswo Unterhaltung.
Unglücklich glitt die einsame Fee zu Boden, ließ sich neben dem toten Körper nieder. Bettete den geschundenen Kopf auf ihren Schoß und schaute blicklos auf das Wasser. Der Sonnenschein hatte seine Schönheit für sie verloren. Das Verlangen zu tanzen, welches sie jedes Jahr zu dieser Zeit heimsuchte, verstummte.
In den Abendstunden kehrte sie endlich in den Wald zurück, suchte ihren Eichenbaum auf und vereinigte sich mit ihm, fand Frieden in seiner Umarmung. Sie spürte das Leben verschlafen in ihm pochen. Seine Knospen sehnten sich danach zu erwachen, warteten auf die Rückkehr des Frühjahrs. Und mit ihm verharrte auch sie.
Unsanft wurde die Fee aus ihren Träumen gerissen. Ein Schaudern durchlief die Bäume des Waldes, die Vögel versenkten ihre Köpfe noch tiefer in ihr Gefieder, Rehe erstarrten schockiert. Entsetzen breitete sich aus. Unsicher verließ die Flötenspielerin ihre Schlafstätte, machte sich auf die Suche nach dem Ursprung des Grauens.
Es war nicht schwer, der Spur zu folgen. Ein Pesthauch aus Fäulnis und Tod wies ihr den Weg. Ihr Herz hämmerte lauter, als sie die Stimmen der Menschen hörte, die sich köstlich zu amüsieren schienen. Als sie sich entfernten, zog sie vorsichtig einen dunkelgrün benadelten Zweig zur Seite. Eine rote Lache, in deren Mitte ein weißer Körper lag. Federn von Pfeilen ragten daraus hervor. Das lebenspendendes Horn abgehackt, als Trophäe mitgenommen. Noch lebte das Einhorn. Aber es ging dem Ende zu. Sie saß bei ihm, als es seinen letzten Atemzug tat. Leise fing sie an zu weinen. Wenn Unschuld die Welt verließ, ging auch ein Teil der Hoffnung verloren. Ihre Tränen vom Wind ergriffen, kühlten ab. Ein Blizzard entstand, fegte in Böen durch den Wald, erreichte freies Land und wütete auch dort.
Städte und Dörfer versanken unter Tonnen von Schnee. Und die Fee weinte in endloser Trauer. Ein leises Wiehern erklang, erregte ihre Aufmerksamkeit. Schniefend erhob sie sich in die Luft, der Sturm ließ sie unbehelligt. Unter einem Busch versteckt lag ein Fohlen. Es zitterte in der eisigen Kälte. Sein weicher grauweißer Flaum schützte es nur ungenügend. Auf der Stirn des Tierchens glimmte schwach ein Horn. Ungläubig und erwartungsvoll zugleich, hob die Flötenspielerin ihr Instrument, entlockte ihm ein paar Töne. Neugierig blickte das Einhornjunge auf. Seine langen Wimpern flatterten. Unsicher schwankend kam es auf die Beine. Sank wieder zu Boden, versuchte es erneut, angefeuert von der Flötenmelodie. Dann stand es endlich. Seine Beine wirkten lang und viel zu unbeholfen, um sich fortzubewegen.
Die Fee umschwirrte ihren kleinen Begleiter, der ihr vertrauensvoll folgte und mühsam seinen Weg durch den Schnee erkämpfte. Erschöpft erreichte das Einhorn die Eiche, ließ seinen winzigen Kopf zu Boden sinken. Mitfühlend legte ihm die Fee eine Hand auf den Rücken und spielte eine neue Tonfolge auf ihrer Flöte, öffnete den Weg in die Welt hinter dem Schleier und ließ das Jungtier passieren. Ihr Blick folgte ihm von der Schwelle aus. Andere würden sich nun seiner annehmen. Sie hingegen war die Hüterin der normalen Welt. Auch wenn es ihr von Jahr zu Jahr schwerer fiel, ihrer Aufgabe nachzukommen.
So viel Leid peinigte das Land. Menschen die sich gegenseitig niedermetzelten und der Natur keine Achtung mehr zollten. Manchmal konnte sie das kaum ertragen. Seufzend flatterte sie nach oben, betrachtete den grau verhüllten Himmel und spürte die Rufe ihrer Umwelt nach Frühling. Ein Wunsch, der für diese Jahr unerfüllt bleiben musste, vielleicht auch für das nachfolgende. Sie als Fee konnte nur den Rhythmus vorgeben, der Impuls neuen Lebens stammte von den Einhörnern und derer gab es nur noch wenige. Ihre Lebensräume schwanden und die Menschen gierten nach dem Triumph, die magischen Hörner ihr eigen nennen zu können. Wenn sie nur verstehen würden, dass sie sich selbst damit zerstörten. Sie wickelte sich in ihre Flügel und versuchte zu schlafen.
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„Kehrte der Frühling zurück Oma? Und was ist aus dem kleinen Einhorn geworden?“ Das kleine Mädchen schaute fragend auf die alte Frau im Schaukelstuhl, dessen Knarren seltsam einschläfernd wirkte. Das Haar der Alten leuchtete weiß im Flackern des Kerzenscheins.
„Nur Geduld mein Kind. Lass mich erst einmal zu Atem kommen.“ Sie schob ihre Brille zurück, senkte ihre Augen wieder auf das Papier und las weiter.
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Mensch und Tier litten unter der Last des Winters, der schon zwei Jahre andauerte. Viele starben durch Hunger und Kälte. Die Fee spürte jeden Lebensfunken, der erlosch, und jedes Mal starb auch ein Teil von ihr. Ihr war nach schreien, wie es die Menschen taten, aber ihre Stimme klang wie ein Wispern im Wind. Nur mit ihrer Flöte konnte sie ausdrücken, was sie fühlte. Früher waren ihre Melodien voller Freude und Leidenschaft gewesen, nun bestimmten Trauer und Schwermut den Takt.
Bis sich eines Tages das Tor erneut öffnete. Temperamentvoll bäumte sich ein stattlicher junger Einhornhengst vor der Eiche auf, weckte mit seinem Gewieher die Fee, deren Lebensmut schon fast erloschen war. Er warf ihr einen Blick zu, auffordernd und trotzig sagte er dem Winter den Kampf an.
Jauchzend sprang sie auf, entfaltete ihre graugewordenen Flügel und ließ sich auf seinen Kopf niedersinken. Er galoppierte los und wie von einer geheimnisvollen Kraft gelenkt, strebte er dem See zu, den er nie zuvor gesehen hatte. Geduldig wartete das Tier, bis sich die Fee in die Luft erhoben hatte, und schnaubte ermunternd. Ihre Wangen färbten sich rot. Farben wanderten in Wellen über ihre Flügel, vertrieben die Zeichen der Alterung und beschwingt ließ sie in spielerische Weise eine trillernde Melodie erklingen. Erst forschend, dann zunehmend jubilierender folgte Tonfolge auf Tonfolge. Goldener Staub wirbelte zu Boden, bildete Muster. Die Hufe des Einhorns folgten dem Rhythmus den die Flötenspielerin vorgab, hauchten den goldenen Linien mal verspielt, dann wieder sanft oder ungestüm Lebenskraft ein. Der verharschte Schnee brach auf. Das Eis, das dem See den Atem nahm, zersprang. Ein buntes Flirren formte sich, breitete sich wellenförmig aus, erfüllte alles, was es berührte mit einem Hauch von Glück. An einer geschützten Stelle schob sich eine kleine gelbe Blüte aus dem Schnee, reckte ihren Blütenblätter der Sonne entgegen.
Entzückt umtanzte die Fee die Blüte, tauchte ihre Fühler in den süßen Nektar und ein Sturzbach von Freudentränen rann ihr Gesicht herunter. „Der Frühling ist da. Der Frühling ist da“, jubilierte sie.
Es heißt, an schönen Tagen kann man, wenn man ganz leise ist, einen außergewöhnlich bunten Schmetterling in einsamen Wäldern tanzen sehen.
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„Und das, mein Kind, war das Märchen, wie die Feen den Frühling rufen.“ Die Greisin lächelte.
Das Mädchen schaute nachdenklich drein. „Aber Oma, was passiert, wenn jemand die Wälder abholzt? Bekommen wir dann keinen Frühling mehr?“
Die alte Frau legte ein Lesezeichen in das dicke Märchenbuch, strich ihrer Enkelin sanft eine Haarsträhne aus dem Gesicht und zupfte die Decke glatt. Ihre Lippen drückte sie auf die Stirn des Kindes. „Ach Liebling, du steckst wieder voller Fragen, nicht wahr? Doch so Unrecht hast du gar nicht. Mit jedem Stück Umwelt das verloren geht, stirbt auch ein Teil der Welt, so wie wir sie kennen.“
„Das ist nicht schön“, murmelte das Mädchen und nahm ihren Teddy fest in ihre Arme.
„Nein, das ist es nicht. Doch nun musst du schlafen.“ Die Alte schob ihren Vorlesesessel zurück, pustete die Kerzen aus und schloss leise die Tür hinter sich.
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Die kleine Gestalt die am Fenster lauschte, streichelte ihre Flöte, steckte sie ein und entfaltete ihre buntschillernden, hauchdünnen Flügel. Traurig flog sie in den Wald zurück. Ihr Weg nur vom Licht des Mondes beschienen. Eine einzelne Träne stand in ihren Augen. Mit jedem Jahr, das verging, fiel es ihr schwerer, den Frühling zurückzurufen. Die Wälder schwanden und mit ihnen die Macht des Feenvolkes.
Copyright: Ivonne Schönherr